Nach einer herzlichen Begrüßung mahnt Willy Bangsund uns zur Eile. Es ist Freitagvormittag 11.00 Uhr und wir müssen noch vor Mittag im Russischen Konsulat das Visum für Murmansk beantragen. Ove und ich waren gerade aus Oslo kommend auf dem kleinen Flughafen bei Kirkenes in der Finnmark angekommen. Hier ist alles überschaubar und es scheint jeder jeden zu kennen. Zumindest scheint jeder Willy zu kennen. Keine zehn Minuten später haben wir unser Gepäck und es geht in einem alten Toyota los nach Kirkenes. Über eine Million Kilometer hat das Fahrzeug auf dem Rücken. Willy fährt den lieb gewonnenen Kleinbus mit Stolz. Zwar sind eine Million gefahrene Kilometer nicht spurlos an diesem Auto vorbeigegangen, doch es fährt immer noch zuverlässig. Könnte das Auto sprechen, es wüsste viel zu erzählen, über das Grenzland hier oben im Norden an der Barentssee.
Zum Beispiel die Sache mit dem finnischen Kampfrichter, der, gerade vom Flughafen abgeholt, hier die „Strømmen bru“ überquerte und dabei die beachtliche Strömung in Richtung Nordmeer bewunderte. Als er zwei Tage später nach einer vom Festbankett gezeichneten Nacht wieder zurück zum Flughafen gebracht wurde, floss die Strömung landeinwärts. Der Finne versprach sofort, nie mehr Alkohol zu trinken, dabei hat die Erscheinung nichts mit Alkohol zu tun. Dieser „Fluss“ ist eine direkte Verbindung zum Meer. Mit der Flut wird Wasser ins Landesinnere geschoben und mit der Ebbe fließt es wieder zurück.
An diesem Wochenende ist es wieder soweit. Der Athletik-Klubb Kirkenes veranstaltet sein Frühjahrsturnier. Es ist Freitag, 20 April, und es liegt noch immer viel Schnee. Trotzdem sind die Banner, die Willy jedes Jahr Tage zuvor als Ankündigung für das Ringerturnier aufhängt, für die Bewohner auch in diesem Jahr die Erinnerung, dass der Frühling beginnt. Doch zuvor treffen sich die Vertreter des norwegischen Ringerverbandes im Schneehotel zu einer Sitzung. Auch hier kündigt sich der Frühling an, denn das Schneehotel ist heute zum letzten Mal in dieser Wintersaison geöffnet.
Für ca. 300 Euro können sich Schneebegeisterte hier im Schneehotel bei ca. 0° C eine Übernachtung gönnen. Bunte Farben durchleuchten die Konstruktion der Eisbar, die mit einem Rentier aus Eis geziert ist, auf beeindruckende Art. Auch die verschiedenen, im Schnee eingravierten Motive lassen romantische Gedanken blühen. Doch ich ziehe dem trotzdem lieber ein schönes, warmes Hotelzimmer vor.
Später geht es in die Ringerhalle. Das ist die nächste Überraschung für mich. Es geht durch einen ca. 50m langen Tunnel in einen Berg. Nach diesem Eingangstunnel erreichen wir die Halle, in der die Matten schon alle gelegt sind. Die Wände erinnern an gekalkte rohe Stollenwände. Und tatsächlich ist es so. Während des Kalten Krieges wurden überall in Norwegen Schutzbunker gebaut. Auch hier in Kirkenes in unmittelbarer Nähe zum ehemaligen Feind wurde ein großer Zivilschutzbunker in den Berg getrieben. Praktisch wie die Norweger sind, wurde der Bunker auch gleich zivilen Zwecken zur Verfügung gestellt. So befindet sich die Sporthalle mit Umkleidekabinen und allem Nötigen direkt in diesem Bunker.
Die letzten Vorbereitungen für das Wiegen werden durchgeführt, schließlich alle Teilnehmer im Computer noch mal abgeglichen und die Daten in die Ligadatenbank übertragen. Die Halle ist liebevoll geschmückt, und obwohl wir uns in einem Bunker befinden, erfüllt die Halle eine angenehme Atmosphäre. Es kann losgehen am Samstagmorgen! Kurz vor Mitternacht verlassen Ove und ich die Halle. Ich bin zuerst etwas irritiert, weil die relative Helligkeit nicht zur Straßenbeleuchtung passt. Wir gehen an den Hafen und bewundern einen Rest von Abendrot der untergegangenen Sonne, das aber nicht weiter nachlässt. Drei Stunden später ist es schon wieder hell.
Ende der 50ziger Jahre dauerte die Reise von hier zur norwegischen Meisterschaft in Oslo noch mindestens eine Woche. Damals wurde die Reise mit dem Auto unternommen. Man muss beachten, von Nordnorwegen nach Oslo ist es weiter als von Frankfurt nach Tunesien. Ove erzählt mir die Geschichte von Ringern aus Nordnorwegen, die zur norwegischen Meisterschaft am 29. Dezember schon vor Weihnachten aufgebrochen sind damit sie rechtzeitig in Oslo waren.
Doch auch heute noch sind Ringerturniere hier oben im Norden schon wegen der Anreise eine Herausforderung. Wenn die Temperatur im Winter auf unter -40°C sinkt darf unterwegs nicht mehr angehalten werden. Ist es dennoch notwendig, darf der Motor des Autos nicht abgestellt werden. Zu groß ist das Risiko, dass der Motor nicht mehr anspringt und Hilfe ist hier oben mehrere Stunden entfernt.
Zurück zum „Aprilstevnet“ der AK Kirkenes: Mit einer Laser-Show mit Kunstnebel startet der Tochtermann* von Willy den „Inmarsch“. Auch hier ist Ringen ein Familiensport und die ganze Familie ist im Einsatz. Die Ringer um Willy zelebrieren ihr Turnier mit sehr viel Herzblut. Mit diesem Einsatz könnten sie jederzeit mit einer Deutschen Meisterschaft mithalten. Das ist aber nur auf den ersten Blick sehr erstaunlich. Es gibt kein Mannschaftsringen in Norwegen. Die Männer ringen Gr.-röm. und die Frauen Freistil. Ringerereignisse sind Einzelturniere. Damit fließt die Liebe zum Ringen einzig in die zwei Mal im Jahr durchgeführten Turniere.
In der Vereinswertung siegte übrigens Haukipudas vor Murmansk und Vorkuta. Die weiteste Anreise hatten die Ringer aus Rostow am Don (3142km).
Was auf einem Turnier vom Schlage des Willy Bangsund nicht fehlen darf ist der krönende Abschluss bei einem Bankett. Bietet doch das Zusammensitzen und die damit verbundenen Gespräche die Möglichkeit, sich auszutauschen, auch mal den Standpunkt zu wechseln und die Welt aus einer anderen Sicht wahrzunehmen. Zweifellos wirkt auch die spirituelle Wirkung der gereichten Getränke positiv auf die ungezwungenen Gespräche. Vor allem der von den Russen reichlich mitgebrachte Wodka macht mir am Ende zu schaffen.
Am Sonntagnachmittag gibt es einen Ausflug zur Hütte von Willys Tochtermann zur Skrukkebugten . Dieser kleine See ist ein Nebenarm des Grenzflusses zu Russland. Von dort starten wir mit einem Snowscooter über den zugefrorenen See zur EU-Außengrenze. Ein junger norwegischer Soldat, der hier die Schengengrenze bewacht, berichtet uns von seiner Arbeit. Heute ist es ruhig hier. Aber als 1968 die Vorbereitung zur Zerschlagung des Prager Frühlings im Gange war standen auf der anderen Seite hunderte Panzer. Die Sowjets hatten sich auf Alles vorbereitet.
Hier oben an der Barentssee liegt im Westen das Nordkap, im Süden Schweden und Finnland und im Osten Russland. Im Sommer geht die Sonne zwei Monate nicht mehr unter und im Winter geht sie zwei Monate nicht mehr auf.
Eigentlich ein beschaulicher, wenn auch rauer Ort. Und trotzdem war Kirkenes im zweiten Weltkrieg die am häufigsten bombardierte Stadt Norwegens. 25.000 Soldaten waren im damals 5.000 Einwohner zählenden Kirkenes stationiert. Von hier aus versuchte die Wehrmacht den einzigen eisfreien Hafen der damaligen Sowjetunion zu erobern. Drei Tage waren für den Weg von Kirkenes nach Murmansk für die Gebirgsjäger vorgesehen. Doch die Offensive blieb auf halbem Weg stecken und Murmansk wurde nie erreicht.
Zurück bei Willy, lerne ich auch seine Frau kennen. Auf meine Frage, ob Sie die Frau dieses verrückten Ringermannes wäre, lächelt sie nur und sagt: „Ja, manchmal!“. „So geht’s wohl auch meiner Frau“, denke ich und schon wird mir bewusst, dass Willy ja schon wieder unterwegs sein wird. Er hat mich eingeladen, seine Freunde im russischen Murmansk zu besuchen. Gleich am frühen Montagmorgen geht es los, über Nickel und Sputnick nach Murmansk. Unterwegs wird angehalten am Denkmal zum Sieg über die Hitlertruppen.
In Murmansk angekommen, treffen wir uns mit dem Sportdirektor.
Nach dem Ende des zweiten Weltkriegs senkte sich der Eiserne Vorhang auch hier oben im Grenzland nieder. Nach Osten war der Weg im kalten Krieg versperrt. Oslo liegt 2.500 km entfernt und selbst nach Helsinki sind es 1.200 km. Die nächsten Städte außerhalb des Varangerfjords liegen mindestens 250 km entfernt. Dazu zählt auch das ebenfalls an der Barentssee gelegene Murmansk. Vermutlich sind es die äußeren Bedingungen, die den Menschen an der Barentssee ein anderes Zusammengehörigkeitsgefühl geben. Aber auch die Lage am äußersten norwegischen Zipfel mit der Grenze zu Russland spielt eine Rolle.
Für Willy Bangsund war es eine Herzenssache, mit den Ringern der damaligen Sowjetunion in Kontakt zu treten. Und so schaffte er es, zusammen mit den sportlich Verantwortlichen in Murmansk, dass sich die Ringer aus Norwegen und der Sowjetunion bei Turnieren ab Anfang der 1970er Jahre immer wieder besuchen, und so eine kleine Lücke in den Eisernen Vorhang schlagen konnten. Ein Austausch auf sportlicher Ebene fand dann regelmäßig statt, und die Ringer waren besonders aktiv.
Eine Zäsur war der Zusammenbruch der Sowjetunion Anfang der 90ziger Jahre. Das traf besonders hart auch die Ringer in Murmansk. Während der Umbruchphase unter Gorbatschow und Jelzin brach die öffentliche Ordnung fast zusammen. Die Ringer verloren ihre Trainingsmöglichkeiten. Diese Notlage kam auch Willy zu Ohren und er reiste zu den Ringern in das 250 km entfernte Murmansk. Nachdem er dort die Situation analysiert hatte, startete er zusammen mit anderen Ringerfreunden aus Norwegen zahlreiche Hilfstransporte und half mit beim Einrichten einer neuen Trainingshalle.
Heute ist Willy Ehrenbürger der Stadt Murmansk und jederzeit herzlich Willkommen.
Willy und ich sind Gäste von Sergej, Sportdirektor in Murmansk. Im April, wenn der Schnee schmilzt und der Frühling hier noch keinen Einzug gehalten hat, verbirgt sich die Schönheit der Stadt hinter den Türen in den Häusern. Nach einem gemeinsamen Essen unternehmen wir eine Stadtrundfahrt durch Murmansk zum Denkmal der „Kursk“, deren Untergang im August 2000 die Welt in Atem hielt. Eine Besichtigung der „Lenin“ folgt, dem ersten atomar angetriebenen Eisbrecher und Stolz der Sowjetunion, inzwischen ausgedient und zum Museum geworden. Dann zum nach Westen gerichteten 39 Meter hohen Soldaten (Alyosha) auf der Anhöhe. Hier brennt eine ewige Flamme zum Gedenken an die Opfer des Faschismus. Doch für uns, Sergej, Willy und mich ist es ein Gedenken an den Wahnsinn so vieler unnötiger Kriege. Eine Weisheit sagt, dass das erste Opfer im Krieg die Wahrheit ist. Und so kämpfen immer wieder Menschen aus zweifelhaften Gründen gegeneinander. Heute, nachdem viele Archive geöffnet sind, wissen wir, wie knapp wir einer atomaren Auseinandersetzung Anfang der 80er Jahre entgangen sind. Wir hätten wieder gegeneinander gekämpft!
Hier stehen wir, ein Russe, ein Norweger und ein Deutscher. Ringen verbindet, besonders die Menschen hier oben an der Barentssee. Gerade deshalb, weil die Menschen an diesem rauen Flecken Erde täglich erfahren, wie wichtig es ist, zusammen zu arbeiten.
Klaus Armbruster